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Eltern-Kind-Entfremdung wird
in Deutschland strafrechtlich verfolgt

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

eine aus meiner Sicht brisante Ankündigung. Zum ersten Mal (meines Wissens) werden die Handlungen, die zu einer Eltern-Kind-Entfremdung führen, in Deutschland strafrechtlich verfolgt. Gestern wurde ich als Zeuge zu einem Fall geladen, der mir als Fachmann sehr gut bekannt ist (27.02.2024). Es ging darum, stichhaltige Hinweise auf Entfremdungshandlungen durch einen (vorläufig mutmaßlichen) entfremdenden Elternteil zu sammeln.

Auf Anfrage geht die Staatsanwaltschaft von einer Verletzung der §§ 171 bzw. 235 StGB aus und versucht nun, den Fall zwecks einer potenziellen Anklage gegen den Elternteil zu rekonstruieren.

Zur Erinnerung:

§ 171 StGB (Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht):

Wer seine Fürsorge- oder Erziehungspflicht gegenüber einer Person unter sechzehn Jahren grob verletzt und dadurch den Schutzbefohlenen in die Gefahr bringt, in seiner körperlichen oder psychischen Entwicklung erheblich geschädigt zu werden, (…) wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

Sowie § 235 StGB (Entziehung Minderjähriger):

(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer

1. eine Person unter achtzehn Jahren (…) durch List oder

2. ein Kind, ohne dessen Angehöriger zu sein,

den Eltern, einem Elternteil, dem Vormund oder dem Pfleger entzieht oder vorenthält.

Die §§ 171 und 235 StGB sind sogenannte „Gefährdungsdelikte“. Solche Delikte beschreiben Handlungen, die als so gefährlich für die jeweiligen Rechtsgüter betrachtet werden, dass allein der Vollzug dieser Handlungen deren Strafbarkeit begründet. Dafür muss niemand zu Schaden kommen (bspw.: Trunkenheit im Verkehr (§ 316 StGB) oder Bedrohung (§ 241 StGB)).

Anders ist es bei den „Erfolgsdelikten“, bei denen der Schaden (im Prinzip: s. der Versuch) als Voraussetzung für die Strafbarkeit gilt, wie beispielsweise bei der Körperverletzung gemäß § 223 StGB.

Somit folgt die Staatsanwaltschaft der Argumentationslinie meines kürzlich veröffentlichten Aufsatzes („Eltern-Kind-Entfremdung als Kindeswohlgefährdung: Ursachen, Folgen, Auswege 2023“ in: Recht für soziale Berufe 23-24. Schmidt, Christoph. Nomos, S. 54).

Diese ersten Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft haben ein außerordentliches Potenzial, ein neues Paradigma im Bereich des Kinderschutzes einzuführen. Reichweite und Resonanz versprechen somit immens zu sein. Die Betroffenen hierzulande sind Tausende:

1) Das Ende des fehlenden Unrechtsbewusstseins unserer Gesellschaft gegenüber Handlungen, die zu einem absichtlichen, aber ungerechtfertigten Abschneiden der elterlichen Bindung führen – hier in Form einer Eltern-Kind-Entfremdung – kann näher gerückt sein. Bislang war es so, dass Menschen mit entfremdenden Absichten aufgrund verschiedener Umwege, wenn überhaupt, nur fürchten mussten, dass sie damit nicht durchkommen würden.

2) Die strafrechtliche Verfolgung solcher Handlungen (die im Grunde logisch und analog zu vielen anderen Fällen von Kindesmissbrauch ist) dürfte eine Signalwirkung haben. Somit wird eine Grenze gezogen, die das „Unrecht“ kennzeichnet. Potenzielle Täterinnen und Täter wissen nun, dass sie beim Vollzug solcher Handlungen Risiken eingehen.

3) Zu erwarten wäre, dass den Fachkräften im Familienrechtssystem das Unrecht an den Kindern (und deren Angehörigen) bewusst wird, sodass sie im Einklang mit dem gesamten Rechtssystem agieren – analog zu anderen Handlungen von Kindesmissbrauch.

4) Indirekt bedeutet dies auch das Ende einer entrüstenden (bis absurden) Diskussion darüber, ob es Eltern-Kind-Entfremdung geben soll oder nicht. Selbstverständlich gibt es sie. Täglich sieht sich jedes Familiengericht damit konfrontiert. Umso mehr, wenn wie bisher, die Täterinnen und Täter, die die Schlupflöcher des Systems wohl kennend, ihr Unwesen vor den Augen aller treiben durften. Auch damit müsste nun Schluss sein.

5) Bei den in Frage kommenden Paragraphen des Strafgesetzbuches handelt es sich um Gefährdungsdelikte. Es muss also nicht zu einem Ergebnis kommen, damit die Handlungen strafbar werden. Bei der Strafbarkeit der Eltern-Kind-Entfremdung wären dann unerheblich, ob die Betroffenen am Ende des Prozesses unter einem erkennbaren Symptommuster (Syndrom) leiden oder ob sie irgendeinen anderen Schaden erlitten haben. Für die Strafbarkeit wäre strenggenommen irrelevant, ob die Entfremdung gelingt – also, ob es tatsächlich zu einer Entfremdung von Eltern und ihren Kindern kommt. Allein der Vollzug der entfremdenden Handlung wäre für deren Strafbarkeit maßgebend.

6) Auch dies geht mit einschlägiger Forschung einher. Der Verfasser konnte feststellen (https://www.leuphana.de/institute/insugo/energie-und-umweltrecht/schriftenreihe-nachhaltigkeit-recht.html, Nr. 28), dass entfremdete Kinder mit einer enormen zusätzlichen Belastung in ihr Erwachsenenleben starten, die auf die Eltern-Kind-Entfremdung zurückzuführen ist. Die neueste Forschung des Verfassers zeigt (bald ein Beitrag dazu im Blog), dass die entfremdeten Eltern einen ebenso großen Schaden aufweisen.

7) Dies öffnet übrigens die Tür für die Anwendung von Erfolgsdelikten im Nachhinein (§ 223 StGB, Körperverletzung, zu der auch psychische Schäden gehören), wenn die Prävention nicht funktioniert hat, so dass die Eltern-Kind-Entfremdung zu einem tatsächlichen Schaden geführt hat.

8) Der gesamte Unheil an die Gesellschaft ist somit direkt belegt. Es sind die betroffenen Kinder – konservativ berechnet: 10.000 bis 20.000 jährlich. Es sind dann die entsprechenden Eltern. Und die Geschwister. Und weitere Angehörige. Diese Zahl ist gesellschaftlich relevant, egal wie man es dreht.

Dabei sind aber weitere Anmerkungen zu machen:

– Wie im oben angekündigten Aufsatz („Eltern-Kind-Entfremdung als Kindeswohlgefährdung: Ursachen, Folgen, Auswege 2023“ in: Recht für soziale Berufe 23-24. Schmidt, Christoph. Nomos) erwähnt, soll es hier nicht darum gehen, dass der entfremdende Elternteil primär ins Gefängnis kommt. Was hätten die Kinder davon? Lediglich als letzte Lösung (ultima ratio) wäre es doch angebracht – zum Beispiel bei Eltern, die in extremem Maße unbelehrbar und bindungsintolerant sind, die es leider gibt immer geben wird.

– In diesem Sinne ist es ausreichend, dass die Gesellschaft die Eltern-Kind-Entfremdung als kindeswohlgefährdend betrachtet und dass sie mit einer entschiedenen Null-Toleranz gegen solche Handlungen zum Wohle unserer Kinder Farbe bekennt.

– Schließlich: Damit das Strafrecht überhaupt in solchen Fällen greifen kann, braucht es Beweise, Indizien des Entfremdungsprozesses. Diese gibt es fast immer – selten aber eindeutig: Als solche können Bilder, Videos, geplatzte Umgangstermine, fehlende oder unspezifische Krankmeldungen etc. gelten. Die brauchen wir nun.

Daher begegne ich der Neuigkeit einerseits mit Optimismus. Im Bereich des Schutzes vor Eltern-Kind-Entfremdung bedeutet der Vorstoß der Staatsanwaltschaft einen einschneidenden Schritt nach vorne zum Schutz unserer Kinder.

Aber andererseits auch mit Sorge. Ich glaube nicht, dass das Strafrecht – abgesehen von einer in diesem Fall absolut essenziellen Grenzziehung zwischen Recht und Unrecht – wirklich Familienprobleme lösen kann.

Das vorrangige Ziel ist hier nicht, Munition für eine Verschärfung des Elternkonflikts zu liefern. Aber doch, dass jeder nun weiß, dass die Gesellschaft nun gegen solche Handlungen zu recht konsequent reagiert. Vielleicht müssen beide eine Weile einhergehen.

Das vorrangige Ziel sollte auf jeden Fall sein, (viel) früher anzusetzen: Menschen sollen verinnerlichen, und die Fachkräfte im Familienhelfersystem sollen zeigen, dass man Familienkonflikte friedlich und konstruktiv lösen kann.

Zweigleisig fahren (Null-Toleranz, friedliche Prävention) wäre dann der richtige Ansatz im Bereich der Eltern-Kind-Entfremdung. Nur: Dafür ist es noch ein bisschen zu früh. Nun sollte darauf geachtet werden, dass dieser Weg, der sich gerade schüchtern geöffnet hat, genutzt wird, damit er weiterbesteht. Den meisten Menschen ist die Eltern-Kind-Entfremdung nicht bewusst – nur, wenn sie darunter leiden. Das muss sich ändern, damit Handlungen der Eltern-Kind-Entfremdung möglichst bald aus dem Leben unserer Kinder verbannt werden.

Es bleibt also nichts anderes übrig: Sind Ihnen solche Handlungen bekannt? Zeigen Sie sie an. Das ist ein sehr ernst gemeinter Aufruf. Für Ihre Kinder, für unsere Kinder.